Sonntag, 1. November 2009

December Is The Coolest Month

Als ich 17 oder 18 war liebte ich es, mich nachts - wenn alle schliefen - in das Wohnzimmer meiner Eltern zu schleichen und The Waterboys oder A Pagan Place aufzulegen, die ich kurz zuvor entdeckt hatte, gleich einem Seefahrer, der einen neuen Kontinent entdeckt. Während der Tonarm mit federndem Knistergeräusch das schwarze Vinyl berührte, setzte ich die Kopfhörer auf und legte mich auf die braune 80er Jahre Couch. Wir lebten damals im 2. Stock des Hauses eines Steinmetzes und um das ganze Haus herum standen Grabsteine. Hin und wieder wurde das Zimmer durch die Scheinwerferkegel vorbeifahrender Autos erhellt. Das fahle Licht einer einsamen Laterne schien immer in die eine Ecke des Zimmers in welcher der Fernseher stand und nur die Jahreszeiten änderten die Dichte des Lichtes. So flog ich auf dem Sofa liegend durch Winter, Frühling, Sommer und Herbst, mit Regen und Wind, die gegen die Scheibe drückten und mit Eiskristallen auf dem Glas. Doch im Winter war es etwas Besonderes. Die Welt war ein Raum. Alles war leicht gedämpft und der Schnee tauchte die Straßen und Räume in ein mattes weißblaues Licht. Wenn es nachts schneite, hielt ich die Augen offen während die Musik meine Welt wie ein Schiff in kalter See durchsegelte. Dann konnte ich im Licht, das die Laterne warf, die Schneeflocken sehen, wie sie manchmal mit einem leichten Aufbäumen wieder aufwärts wirbelten und tanzten und endgültig ungesehen zu Boden fielen.

Schnee, Stille, Winter. Koordinaten einer großen Landkarte, mit deren Hilfe Mike Scott, Sänger, Komponist und Multiinstrumentalist der Waterboys, Länder und Ozeane durchreist. Manchmal auf Schiffen mit roten Segeln, die The Marlene heißen und ihre Besatzung bis vor die Tore von Paris bringen.

‚December is the cruellest month, but this time for once my cheeks are warm...’

Das erste Mal sah ich die Waterboys, als ich mich eines Abends mit zwei Freunden zu einer Redaktionssitzung traf. Wir brachten damals eine eigene kleine Zeitschrift in Miniauflage heraus. Währenddessen lief im Fernseher eine Rockpalast-Sendung. Zumindest glaube ich mich zu erinnern, dass es eine war. Gerade noch spielte die Gruppe Talk Talk. Danach betraten in schwarze Lederklamotten gekleidet The Waterboys die Bühne und begannen zu spielen. Der Name sagte mir nichts, aber die Symbolik darin gefiel mir. Das erste Lied war All The Things She Gave Me. Es begann wie ein Sturm. Ich war elektrisiert. Wir legten die Stifte weg und konzentrierten uns ganz auf die Sendung. Die Präsenz der Musik und des Sängers war überwältigend. Sie spielten A Girl Called Johnny und schließlich Red Army Blues und Savage Earth Heart. Es war ein ähnliches Gefühl, wie das, als ich einige Jahre zuvor das erste Mal Bob Dylan hörte. Etwas erreichte mich. Etwas, das ich sonst nicht in meiner Umgebung kannte und das gleichzeitig so sehr zu mir zu gehören schien, meinen Gedanken half, ihre Bahn zu finden. Das hatte zur Folge, dass ich gleich am nächsten Tag in einen Plattenladen ging um mir A Pagan Place zu kaufen. Am übernächsten kaufte ich The Waterboys.

Das Debut-Album, das mit December beginnt, ist der Morgenstern im Scott’schen Universum. Die perfekte Musik für Nächte in Einsamkeit und mit verschneiten Straßen vor der Tür. Musik, mit deren Hilfe man an das Ufer einer unruhigen See gelangen kann. Es ist fast schon ein physikalischer Vorgang wie Farben, Töne und Geschichten beim Hören ineinander greifen und ein fiebrig-flirrendes Schwingen erzeugen.

Heute lege ich mich nicht mehr in das Wohnzimmer meiner Eltern um Musik zu hören. Heute gehe ich in das Hinterzimmer eines uralten Hauses, das mitten in der mittelalterlichen Altstadt mit Fenstern über dem Marktplatz liegt. Freunde haben das einsame Zimmer gemeinsam mit mir gemietet. Ein Ort um sich zurückzuziehen, Musik zu hören, Bücher zu lesen, Dichter zu rezitieren oder Fotos zu machen. Alles ist so belassen, wie es noch vor 50 Jahren war. Und ich habe zwischen schlichten schmucklosen Tapeten, die noch auf Zeitungen geklebt sind, einem alten grünen Sofa, einem über hundert Jahre alten Kachelofen, dem alten Philips-Tonbandgerät, das mir ein Freund geschenkt hat und einem Plattenspieler wieder angefangen nachts Musik zu hören. Und obwohl sich mein Musikspektrum enorm vergrößert hat, höre ich immer noch die Waterboys - diesmal ohne Kopfhörer. Musik, die um ihretwillen gespielt wird, die wahrhaftig ist, ist rar in diesen Tagen.

Draußen ist es still und die alten Dielen vibrieren leicht unter den Bässen, gleich den Planken eines Schiffes auf See. Alle Assoziationen sind da. Und wie damals höre ich in Farben, wenn Gala aus den Lautsprechern brandet – eine Komposition aus flackernden Lichtern, das versuchte Kitten einer zersprungenen Seele, vorgetragen von einer Stimme aus einer namenlosen Zeit. Diese Musik ist imstande in metaphysischer Weise von einem Raum Besitz zu ergreifen. Und das geschieht noch bevor Scotts Stimme ansetzt. Das Klavier – erst zaghaft und mit einzelnen kleinen Klimpertönen intoniert – bricht aus und klagt sich mit Schlagzeug und Basstönen, die von irgendwo her kommen, rhythmisch in ekstatische Erregung. Bis schließlich alles erlösend in sich zusammenbricht und das Klavier alleine mit dem minimalistischen Schlagzeug nach vorne treibt - wie das gleichmäßige Aufschlagen der Ruder auf stiller See. Hinein in einen unendlichen Raum. Leichte Akkorde schweben und tragen das eigenartige Kolorit in die nächste Ebene einer nächsten Sphäre und Mike Scott singt wie ein Erzähler spricht. Ich schließe die Augen und sehe das Mädchen im Fensterkreuz stehen und auf die See hinaus starren. Mit einem Mal finde ich mich wieder im Heck eines der Boote, hinter Seeleuten sitzend. Die halbe Nacht waren sie draußen auf den schaukelnden Wellen und werfen jetzt die Leinen aus, während sie beidrehen. Ich kauere unentdeckt im Boot ganz hinten und lausche ihren Gesängen, als sie unsere verlorenen Seelen aus dem kalten Wasser an Bord und in Sicherheit ziehen. So auch Galas verängstigte Seele, das verschreckte Kind, das wir kannten und das wir einmal waren. Manchmal denke ich dabei an Die wahnsinnige Kate, ein Gemälde des Malers Henry Fuseli, das eine kindgleiche Frau zeigt, mit traurig verstörten Augen und auf einem Fels sitzend, während der Wind durch ihr Haar fährt. Am Ende des Songs hallt noch lange die Basstrommel nach, deren Rhythmus wie Herzklopfen klingt, das nach und nach in der dunklen Tiefe der See versinkt.

Weshalb hat mich damals diese Musik so berührt und bis heute nicht mehr losgelassen? Sie ist echt in ihrer Ungeschliffenheit, in ihrem geheimnisvollen Wesen, in ihrer Verheißung, dass sich hier eine Tür aufgetan hat, eine Einladung, den Korridor entlang zu gehen und weitere Räume zu entdecken und weitere Türen zu öffnen. Und weil sie Phantasien freisetzt durch ihre ungeheuren Räume. Songs wie I Will Not Follow, It Should Have Been You oder Savage Earth Heart bilden ihre eigenen Sternensysteme. Die meisten Stücke auf diesem Album hat Mike Scott alleine aufgenommen. Unkonventionelles Gitarrenspiel, Klavier und der Sound des legendären Drum-Computers TR-606 machen den Klang dieser Musik so eigen. Später hat er mit zahlreichen Musikern weitere großartige Songs aufgenommen, unter anderem mit dem einzigartigen Geiger Steve Wickham.

Kann ein Musiker wissen, wie seine Musik auf den Hörer wirkt? Nein, das ist unmöglich. Ist das Werk erst einmal vollendet, hat es sich von seinem Schöpfer befreit und führt ein gänzlich unabhängiges Leben. Laut Kandinsky ist die Kunst ewig frei. Ein Künstler kann nicht in Vollkommenheit verstanden werden. Aber ist das nicht belanglos? Jagen die Legionen von Dylanologen nicht ihrem ursprünglichem Gefühl hinterher, einem Bild, das sie erstmalig gesehen haben, als sie die Bedeutung seiner Songs nicht universal, sondern für sich alleine verstanden haben? Und entfernen sie sich nicht mit jedem weiteren Deutungsversuch immer mehr von diesem echten, nur für sie alleine geltenden und niemals übertragbaren Bild? So verhält es sich auch umgekehrt. Ein Künstler kann nicht wirklich wissen, weshalb sein Werk geliebt wird.

Heute ist Mike Scott fünfzig Jahre alt und seine Stimme hat noch immer die ungebrochene Intensität einer Flamme, deren Herr er ist. Scott gehört als Sänger in die Reihe derer, die mit einer suggestiven Wirkung in einer einzigen Zeile Hoffnung und Tragik eines ganzen Lebens zu fassen vermögen. Der Schüler von Blake und Yeats ist selbst ein Dichter geworden. Einer, der wie ein Chirurg seine Worte gleich einem Skalpell zielsicher zwischen den Verflechtungen der Blutgefäße in den Nervenzentren ansetzt.

Heute Morgen hat mir die Briefträgerin ein Päckchen übergeben und dabei schien es mir, als habe sie mir zugezwinkert. Es enthielt die neueste Ausgabe von The Believer, einer Zeitschrift aus San Francisco. Als es dunkel wurde, habe ich die beigelegte CD herausgenommen und bin die Abkürzung durch die zwei engen Gassen gegangen, hin zu dem Haus. Ich erklomm die geraden Treppen, meine Finger tasteten im Dunkeln nach dem Schlüssel über der Tür und die Dielen knarrten unter meinen Schritten. Das über zehn Minuten lange A Wild Holy Band hat Mike Scott eigens für diese Ausgabe aufgenommen. Ich schalte an. Die Musik beginnt. Es ist als würde ein Schiff aus dem Hafen auslaufen. Als würden die an Land Gebliebenen lautlos Abschied nehmen in der Hoffnung, es möge im Wind segeln, den Stürmen trotzen, vor Feinden nicht zurückschrecken. Den Anker gelichtet, die Segel gespannt, vom aufkommenden Wind auf die hohe See geblasen auf der ewigen Suche nach den wahren Dingen.

Ich wünschte draußen vor der Tür hätte der Winter mitten im August Einzug gehalten und still die Straßen in Weiß gepudert, als Scotts Stimme ertönt.
I walked out stunned and liberated and soon began my travels.

Der Kapitän eines Schiffes, das sich The Waterboys nennt.

© M. Moravek